nzz.ch:
Wann gerät ein deutscher Bürger ins Visier des Verfassungsschutzes? Die Antwort darauf ist beunruhigend vage
Die
Bundesregierung setzt den Inlandgeheimdienst als Waffe im Kampf «gegen
rechts» und als Richter über politische Meinungen ein. Das ist ein
autoritärer Irrweg.
(...)
Indem
sich ein freiheitlicher Staat verhöhnen lässt, schützt er seine
Verfassung. Denn zur Herrschaft des Volkes gehören der freie Austausch
von Meinungen, die Kritik am Staat, der Wettbewerb der Ideen, und all
das umfasst – natürlich – auch das Recht, den Staat zu verhöhnen.
Wenn
nun also die deutsche Innenministerin Nancy Faeser von der SPD
ankündigt, dass es jeder, der den Staat verhöhne, «mit einem starken
Staat zu tun» bekomme, tut sie das Gegenteil dessen, was sie vorgibt:
Sie stärkt die Demokratie nicht, sondern schwächt sie. Das ist auch dann
der Fall, wenn dies explizit nur für «Rechtsextremisten» gelten soll.
Denn die Begriffe sind sämtlich nicht klar definiert.
Zum
Beispiel die Verhöhnung: Was der eine als Scherz wegsteckt, kränkt den
anderen zutiefst. In Gesetzestexten wird stets versucht, ein hohes
Abstraktionsniveau mit möglichst konkret definierten Rechtsbegriffen zu
erreichen. Faeser hingegen führt ihren Kampf «gegen rechts» mit vielen
unbestimmten Begriffen, von der «Hetze» bis zur «Delegitimierung».
Gefährliche Wechselwirkungen der Gesetze
Wenn dazu auch noch ihre grüne Kabinettskollegin Lisa Paus freimütig zugibt, auch für Meinungsäusserungen «unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit» das passende Meldeportal
schaffen und gesetzliche Regelungen «anpassen» zu wollen, ist es
gerechtfertigt, in höchstem Masse alarmiert zu sein. Die Pläne bedeuten,
dass jeder Bürger, der sich unliebsam äussert, es künftig mit einer Art
Gesinnungspolizei zu tun bekommen kann.
Was
darf man in Deutschland im Jahr 2024 noch sagen? Das
Bundesinnenministerium antwortet ausweichend. Die NZZ hatte, nur als
Beispiel, gefragt: «Wenn jemand bei Facebook schreibt: ‹Die Regierung
ist eine inkompetente Gurkentruppe›, reicht das bereits, um es mit dem
‹starken Staat› zu tun zu bekommen?»
In
seiner Antwort verweist ein Sprecher des Ministeriums darauf, die
Äusserung der Ministerin beziehe sich ausschliesslich auf Massnahmen
gegen Rechtsextremisten. Zulässige Meinungsäusserungen seien davon nicht
erfasst, sondern nur Rechtsverstösse. «Rechtsextremisten verhöhnen den
Staat, indem sie die Demokratie des Grundgesetzes delegitimieren und
durch verfassungsfeindliche Aktivitäten bekämpfen», heisst es weiter.
Aber
wo ist die Grenze? Es ist erlaubt, die Demokratie des deutschen
Grundgesetzes zu delegitimieren. Rechtsextreme Meinungen zu vertreten,
ist ebenfalls erlaubt. Doch nach Faesers Plänen soll der Staat künftig
eingreifen dürfen, ohne dass klar definiert ist, wo zulässiges
«Rechts-Sein» endet und verfassungsfeindlicher Extremismus beginnt,
allein auf Verdacht. Er soll Konten genauso einfrieren können wie legal
besessene Waffen einziehen. Eine konkrete Handlung soll dafür nicht mehr
nötig sein, ein «Gefährdungspotenzial» ausreichen.
Neu
ist diese Entwicklung nicht, und sie hat lange vor Faeser begonnen. So
wurde bereits im Jahr 2001 die Grundlage dafür geschaffen, dass der
Verfassungsschutz Telefone schon dann abhören kann, wenn er
«tatsächliche Anhaltspunkte» dafür sieht, dass jemand volksverhetzende
Äusserungen «plant». Er muss sie noch nicht getätigt haben. Seinerzeit
hatte der Paragraf zur Volksverhetzung im Strafgesetzbuch zwei
Absätze, inzwischen sind es acht, und auch diese sind voller
unbestimmter Begriffe – ein Freibrief für politischen Aktivismus.
Auch eine «transphobe» Äusserung kann heutzutage ein Fall von Volksverhetzung sein. Der Satz «Es gibt nur zwei Geschlechter» gilt bei der Meldestelle «Berliner Register» beispielsweise schon als rechtsextrem.
Meldestellen dieser Art gibt es inzwischen – steuerfinanziert – im
ganzen Land. Dort können Bürger verdächtige Äusserungen ihrer
Mitmenschen melden. Die staatliche Gesinnungspolizei wird durch
staatlich gefördertes Denunziantentum verstärkt.
Grundrechte werden peu à peu und im Stillen beschnitten
Zur
Erinnerung: Grundrechte sind Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe,
und jede Beschneidung der Freiheit ist grundrechtsrelevant. Dies ist vom
Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Urteilen bestätigt worden.
Die
Grundlagen für Eingriffe werden oft in aller Stille geschaffen, durch
kleine Gesetzesänderungen. So wurde etwa im Sommer 2021 die Schwelle
gesenkt, die es dem Inlandgeheimdienst ermöglicht, auch einzelne
Personen zu beobachten. Auch das war vor Faesers Amtszeit. Damals
regierten in Deutschland die bürgerlichen Unionsparteien zusammen mit
den Sozialdemokraten; Innenminister war der christlichsoziale Horst
Seehofer.
Obwohl
der Verfassungsschutz politisch neutral sein soll, lässt er sich
offenkundig für politische Zwecke einspannen. Der amtierende Chef Thomas
Haldenwang hat sich in dieser Hinsicht schon mehrere Male regelrecht
verplappert: Es sei «nicht allein Aufgabe des Verfassungsschutzes, die
Umfragewerte der AfD zu senken», sagte er bei der Vorstellung des
Verfassungsschutzberichtes 2022. Nicht allein? Es ist überhaupt nicht
dessen Aufgabe.
Der
Verfassungsschutz soll kein Akteur im parteipolitischen Wettbewerb
sein. Er hat – parteipolitisch neutral – Informationen über
verfassungsfeindliche Umtriebe zu sammeln. Streng genommen müsste der
Geheimdienst sich und seinen Präsidenten heute selbst ins Visier nehmen.
Haldenwang etwa sagte im November 2023 bei einer Podiumsdiskussion in
Berlin auf die Frage nach einer möglichen AfD-Beteiligung an der
Bundesregierung: «Wir müssen jetzt tätig werden, um so etwas in sieben
Jahren vielleicht zu verhindern.» Nein, sicher nicht. Die anderen
Parteien und andere nichtstaatliche Akteure können sich das zur Aufgabe
machen. Der Verfassungsschutz hat sich rauszuhalten.
Warten auf das AfD-Urteil
Am
12. März verhandelt das Oberverwaltungsgericht im
nordrhein-westfälischen Münster die Klage der AfD gegen ihre Einstufung
als sogenannter Verdachtsfall durch das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Das Medieninteresse ist riesig. Was, wenn der Verfassungsschutz keine
juristisch ausreichenden Belege hat?
Dass
der deutsche Inlandgeheimdienst zunehmend politisch handelt, wurde
schon während der Corona-Zeit auffällig, als der
Verfassungsschutzbericht plötzlich ein neues Kapitel enthielt. «Verfassungsfeindliche Delegitimierung des Staates» lautete der Titel.
Gemeint waren Bürger, die den teilweise massiven Grundrechtseingriffen
während der Pandemie kritisch gegenüberstanden und dagegen auf die
Strasse gingen. Mögen einige von ihnen auch fragwürdige Ansichten
vertreten haben: Vor allem machten sie von ihrer Meinungsfreiheit und
ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch, welches ebenfalls ein
Abwehrrecht gegen den Staat ist.
«Was
heisst ‹Delegitimierung› überhaupt?», schreibt der Verfassungsrechtler
Volker Boehme-Nessler von der Universität Oldenburg auf Anfrage dieser
Zeitung. «Wo verläuft die Grenze zwischen Delegitimierung und
verfassungsrechtlich garantierter und demokratiepolitisch erwünschter
Kritik?» Wenn der Verfassungsschutz selbst die Grenze ziehe, dann
entscheide ein Geheimdienst faktisch über die Grenzen der
Meinungsfreiheit. Das sei absolut verfassungswidrig.
Was ist ein Verschwörungstheoretiker, und wo fängt er an?
Ähnlich
verhält es sich mit dem Begriff «Verschwörungstheoretiker». Was das
genau sein soll und wann ein Bürger ein solcher sei, vermochte der
Verfassungsschutz Ende 2020 im Innenausschuss des Deutschen Bundestags
auf Nachfrage nicht zu erklären. Die Fragestellerin Beatrix von Storch
von der AfD wurde mehrmals vertröstet, bis ihr Monate später
schliesslich beschieden wurde, man gebe den Definitionsversuch auf. Als
Ansatz für ein Eingreifen des Verfassungsschutzes sollte der diffuse
Begriff dennoch ausreichen.
Dieses
und weitere Beispiele beschreibt der Autor Mathias Brodkorb in seinem
Buch «Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als
Erfüllungsgehilfe der Politik». Es erscheint am 4. März und liest sich
beklemmend. Brodkorb, das sei hier erwähnt, steht nicht im Verdacht, ein
Verharmloser des Rechtsextremismus zu sein. Der Sozialdemokrat, der im
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern als Bildungs- und Finanzminister tätig
war, hat 2006 das Portal «Endstation Rechts» mitgegründet, eine der
bekanntesten ostdeutschen Initiativen gegen Rechtsextremismus.
«Der
rechtliche Instrumentenkasten des Verfassungsschutzes zur Überwachung
von Einzelbürgern ist durch den Effekt kommunizierender Röhren ins
nahezu Uferlose gesteigert», schreibt Brodkorb in seinem Buch mit Bezug
auf die Wechselwirkungen der vielen Gesetzesänderungen. «Freiheit stirbt
immer zentimeterweise», schreibt Boehme-Nessler im Vorwort zu dessen
Buch. Beide kommen zum Schluss, dass die Behörde abgeschafft werden
sollte. Sie sind damit nicht allein.
Und
was macht der Geheimdienst? Anstatt seine ausufernden Aktivitäten
angesichts der lauter werdenden Kritik zu hinterfragen, verschiebt er
den Zeitpunkt, an dem er sein eigenes Einschreiten für geboten hält,
aufgrund von Verdacht und Vermutung immer weiter nach vorne.
Passenderweise befasst sich der Deutsche Bundestag in einer Aktuellen
Stunde an diesem Freitag mit dem Thema «Schutz der Meinungsfreiheit vor
staatlichen Übergriffen». Es ist der letzte Tagesordnungspunkt vor dem
Wochenende.
(...) Quelle:
https://www.nzz.ch/international/deutscher-verfassungsschutz-auf-dem-weg-zur-gesinnungspolizei-ld.1815064